Taub
Das ist nicht so, dass er taub ist, wie sein Bruder es immer wieder behauptet. Nein. Er hört nur, was er hören möchte. Zum Beispiel die paar Vögel, die sich zu dieser Jahreszeit noch in den Bäumen eingenistet haben, hört er ganz deutlich. Sogar die Stromleitung hört er gerade. Und die Spinne, die sich ganz vorsichtig in ihr Netz zurückzieht. Naja gut, mit der Spinne ist es vielleicht auch Einbildung. Aber das Rascheln der Flanellhose seines Bruders ist wirklich nicht zu überhören. „Bist du dir sicher? Du hast ja noch deine Socken.“ „Ja, ganz sicher. Um Nelly. Die Socken hat mir Mama gestrickt.“ Poker ist ein übles Spiel, das wahre Gefühle ans Licht bringt.
Spiegel
Er schaut sich im Spiegel an. Sein Blick fokussiert sich auf seine Nase. „Deine Nase ist wie ein Polizist an einer Kreuzung: Sie regiert jeden Gesichtszug. Wenn du die Nase rümpfst, machen sofort die Ohren mit“, hat sie lachend gesagt. Er zog seine Krawatte wieder zurecht. Es war ein schöner Tag gewesen. Nicht schön – besonders. Alle beteiligten hatten dazu beigetragen. Michelle hatte sogar laut gelacht und „Zieh deinen Weg“ gesungen, worauf Karin und Peter ihre Gitarre rausgeholt und mitgesungen hatten. Die beiden Mädchen hatten Steine gesammelt und alle zehn Schritte einen auf den Weg gelegt. „Papa, wir werden uns bestimmt nicht verlaufen. Und wenn, finden wir den Weg nach Hause wieder!“ In dem moment hatte er sich auf seine Nase konzentriert und alle Kraft gesammelt, damit sie still bleibt. Er zog das Taschentuch aus seiner Jacketttasche und wischte sich die Stirn ab. Ja, es war ein besondere Tag gewesen. Auch mit diesen ganzen Blumen überall. Seine Schwiegermutter hatte darauf bestanden. „Jule liebte Blumen so sehr!“